Der Siebdruck mit dem Titel „fula acrobatvon Ebou Fye Jassey erschließt sich dem Betrachter auf den ersten Blick unmittelbar als Balanceakt einer lustig verkleideten Figur. Dieser Mensch steht auf dem Rand einer ... nein ... auf den Rändern zweier Schüsseln ... Kürbishälften ... oh je. Der zweite Blick reißt Abgründe in mein Verständnis für die dargestellte Szene. Allein die Geometrie der ineinander gestellten ... nein, der hintereinander ... Moment ... oh Herr Jemine. Zu sehen sind drei perspektivisch zu Ellipsen verzerrte Ränder der nach oben offenen, hohlen Halbkugeln aus Kalebassen. Dazu scheinen die beiden großen Kalebassenschalen zu gehören, die am Boden schräg versetzt hintereinander stehen. Und die dritte, deutlich kleinere Kalebasse rotiert in der Vorderen. In derjenigen, welche selbst – verfolgt man der Kalebassen Ränder – in der Hinteren und Größten der drei ... sind es überhaupt drei? Fye Jassey entwirft in dem Spiel mit den Konturen der aufgeschnittenen Kalebassen eine Geometrie der Verbindung des Unmöglichen mit dem Alltag eines afrikanischen Artisten. Dieser Eindruck setzt sich fort in der Zeichnung der Schalenoberflächen und wird in der menschlichen Figur übermächtig: zwei Füße werden von zwei Händen an ihren Fesseln gehalten, während eine dritte Hand dazwischen und dahinter ins Leere greift.

Das geht nicht. So kann es nicht sein: Der Arm zur dritten Hand endet mit seiner Schulter in des Akrobaten rechtem Auge. Aus dem anderen Auge wächst das Bein, dessen Fuß auf der hinteren, äußeren, größeren, hmm, auf einer der Kalebassen steht, gehalten von der Hand, deren Armes Ursprung zu ergründen jedes ernsthafte Gehirn scheitern muss. Der Mann muss kippen, doch er hält sich oben. Die Schwerkraft scheint noch zu wirken, aber ohne Drehmomente zu verursachen. Es gibt nur eine Lösung: Fye Jassey zeigt mehrere, zeitlich getrennt aufgenommene Stadien der akrobatischen Nummer in einer Kollage, mit der er seinen Eindruck der „Gleichzeitigkeit“ vermittelt. Gleichzeitigkeit erfordert unendliche Geschwindigkeit. Mit dem Postulat der Gleichzeitigkeit gelingt es dem Künstler, unvorstellbar hohes Tempo in der dargestellten Szene zu suggerieren, obwohl die Symbolik der einzelnen Details Statik im Sinne von Stabilität fühlbar werden lässt. „Unvorstellbar“ nicht einfach nur so hingeschrieben: Fye Jassey lehrt, wie das Vorstellungsvermögen der Zuschauer des Akrobaten durch dessen geschickte Darbietung an der Nase geführt wird. Während „das Ganze“, jene akrobatische Einheit aus Mensch und Requisiten, vollkommen in sich selbst zu ruhen scheint, misslingt jeder Versuch, kausale Erklärungen für das Gleichgewicht der Komposition zu konstruieren. Ein Mensch kann in der hier gebotenen Weise nur auf Kalebassen tanzen, wenn ihm zusätzliche Gliedmaßen wachsen und wenn alle Arme und Beine ihrer Zwangsbedingungen beraubt beliebige Punktepaare des wirbelnden Raums verbindend stützen. Nur die Illusion des Betrachters trägt den Tänzer und bewahrt ihn vor dem Absturz. Das Blatt rollt sich noch – wegen der zylindrischen Transportrolle. Rosa. Was für einen Hintergrund zu diesem Rosa? Ein schlanker, ausreichend geräumiger Holzrahmen wird benötigt – klar. Wann kommt er denn endlich ...



Endlich, der Rahmen ... nur gut, dass er durch die Tür gepasst hat.


Flach, der Rahmen ... so soll es sein. Dezent, beinahe schlicht, aber edel.


Getrennt, die Umverpackung mit der Füllung Schock verhindernder Papiere.


Hintergründe – Grau zu flach, Schwarz zu hart, Braun, ja, bingo, wundervoll!


Ideal ist dies Ensemble für das Präparat entspannten Kunstgenusses.


Jedoch – die Wand! Sie kann nicht, wie sie ist, so bleiben: kalt und spiegelnd.


Wie kann es sein, dass diese Überlagerung von wallendem Textil und nackten Gliedmaßen sofort erkennbar sein lässt, dass hier jemand höchste Akrobatik aus dem Grenzbereich mechanischer Gesetze präsentiert? Muss ich, um dieses Bild lesen zu können, erst zu den Gegenständen lernen, die der Künstler dazu angibt? „Fula acrobat – African dance. African tribe dancing on calabash“

Fula, tribe und Kalebasse muss ich nachlesen. Die Fulbe sind ein ursprünglich nomadisierender Stamm Afrikas. Einzahl: der Pullo. Aha. Ein Pullo darf niemals ausrasten, sondern muss immer beherrscht und kontrolliert auftreten. Passt zur Körperbeherrschung des Artisten, widerspricht aber der wirbelnden Dynamik der eingefrorenen Handlung. Oder ist das der Zugang, dieser scheinbare Widerspruch? Der Pullo drängt sich nicht in den Vordergrund, sondern hält sich zurück und muss stets uneingeschränkt ehrlich sein. Soso, eines Akrobaten Ziel ist, seines Publikums Aufmerksamkeit auf sich zu lenken und zu bannen, kann also ein Pullo Akrobat sein? Kann er diesen Beruf ausüben, wenn er das Expressive daran kompensiert mit der überragenden Ehrlichkeit unbestechlicher Naturgesetze? Der Pullo auf dem Bild tanzt in physikalisch schier unerklärlicher Stabilität, da wird wohl kein Trick ausreichen, sondern es Bedarf der höchsten Selbst- und Körperbeherrschung, um nicht in die Kalebassen hinein zu stürzen, die ständig unter seinen Füßen weg kippen. Das ist harte, ehrliche Artistik, schwer verdient durch Selbstdisziplin und Training. Die Fulbe streben nach Weisheit, um die wichtigsten Ziele ihrer Charakterbildung, Ehrlichkeit und Bescheidenheit, zur Blüte bringen zu können. Gut. Das wusste ich nicht. Ein Pullo, der sich schändlich benimmt, der sich fürchtet oder der lügt, wird aus dem Stamm verstoßen. Ein Pullo darf nur eine Frau heiraten, die selbst zu den Fulbe gehört. Dass sich der Akrobat auf den Kürbissen wohl zu fühlen scheint, verstehe ich jetzt. Er ist dem strengen Gespinst des Pulaaku ausgeliefert, eines Stammeskodexes, der Unmögliches verlangt, um Hervorragendes zu erbringen, das dann aber nicht mit Menschen anderer Kulturen geteilt und vermischt werden darf. Pullo zu sein bedeutet, Isolation für sich als berechtigten Lebensumstand anzuerkennen und zugleich, trotz des eigenen Strebens nach Perfektion, voller furchtloser Demut und ehrlicher – nicht gespielter - Bescheidenheit seine Viehherde als höchstes, göttliches Gut über Alles zu lieben. Ein Eiertanz, möchte man meinen, doch tatsächlich ein Tanz auf den Halbsphären geteilter Flaschenkürbisse. Nachlesen: Flaschenkürbisse gehören zusammen mit Gerste, Reis und Hanf zu den ältesten Kulturpflanzen des Menschen. Die Schalen dienen seit jeher als Gefäße und Kultgegenstände. Die Kora und die Sitar werden aus Kalebassenhälften hergestellt. Und das Werkzeug des Artisten aus dem Stamme der umher wandernden Viehhirten mit der uferlos komplizierten Sprache auch. Gut, genug gelesen. Jetzt bin ich schon ein bisschen weniger dumm und kann mir den wundervoll widersprüchlichen Siebdruck noch einmal anschauen.



Kein Weiß, auf keinen Fall soll kalknes Weiß den Akrobat zerquetschen, nein, wir brauchen einen sandig warmen Ton mit nur nicht allzu viel an Rot und Gelb. Versöhnen soll der Mauer Farbe zwischen Rosarot und Braun, wobei der Tänzer sich aus der Gestaltung heben muss, wie auf dem Bild über den Kalebassen schwebend zauberhaft.


Lieber gleich richtig machen, nur nicht überstürzt oder Ruck-Zuck.


Malern wir also, oder lassen wir es tun: Das Bild, an jener nackten Wand nun hängend, ruft Begeisterung hervor. So soll es bleiben, dieser Platz hat dreizehn Jahre lang auf nichts gewartet, als auf diesen Fulah Akrobat, den Ebou Fye Jassey als Siebenundvierzigsten im Jahre 1989 druckte, als die Wand noch lange nicht die Unsere gewesen war.


Nobel wird die Ansicht sein, wenn sich das Zimmer in der passend ausgesuchten Farbe schmückt.


Original, wie originell! Der letzte Blick vor der Veränderung des satt Gewohnten. Was sich bewährt hat, das soll bleiben. Was immer störte, das wird umgebaut. Diese Wand hat sich verlobt mit Ebous Werkstück. Bald ist Hochzeit und ihr Brautgewand aus Dispersion ist schon in Arbeit. Auch die Möbel feiern mit bei der Vermählung und rücken ratternd rum im Raum.


Perfekt, die Farbe, alles Bunte harmoniert. Ein rundes Ganzes, weich und fließend einerseits und aus der anderen Blickrichtung reichlich harter Kontrast: Das Passe-partout eröffnet einen tiefen Sandsteintunnel, jäh begrenzt von gleißendem Licht, das des Tänzers rosa Aura umkränzt, um jedes Maßnehmen an Tiefe Hohn zu lachen. Ein Rätsel, in dem alles passend scheint.


Quer aufwärts blickend nach Südost – das Traumpaar Wand und Bild hat sich bereits vereinigt und schwört Treue.


Richtig, rechteckig rahmt hier das Runde, die Wände wirken warm wie Wolle und aus den Boxen dazu Kora.


Siddhartha lächelt hoch zufrieden, hat schon verstanden, was die Szene spricht und was ich erst noch lernen muss.


Es ist noch immer rätselhaft. Ein Pullo als artistisch Tanzender zelebriert im Rampenlicht der Illusion von Schwerelosigkeit verrenkte Zauberei zum Thema Gleichgewicht. Ein Schmetterling mit großen, bunten Flügeln balanciert über den Rand des Nektars Blütenkelch. Es ist ein Bild, das mich erinnert, dass ich nicht in jedem Falle fähig bin, bis drei zu zählen, denn die Kalebassen reduzieren sich zu zei oder gar einer, wenn ich nur den Blick darauf verschiebe. Mein erster, eigener Fye Jassey. Man muss es nahe bei sich haben, wenn man die Rätsel darin sucht und der Versuchung widerstehen will, die erste Billiglösung für sich flink zu akzeptieren. Dieses Bild muss ich leer schauen, immer wieder, bis es aufhört, seine stumme Frage in mein Hirn zu flüstern: „wie geht das, was du siehst?“ Vielen Dank, Ebou Fye Jassey, für diese Herausforderung. Sei sicher, dieses Stück aus deinem Werk erfährt viel Würdigung und wir erweisen ihm und seinem Schöpfer achtungsvoll Respekt.